Weg einer Plastiktüte

Das Leben aus Sicht einer Plastiktüte

Darf ich mich vorstellen? Ich bin eine formschöne, aber leider namenlose Plastiktüte, die schon einiges erlebt hat. Ich stamme aus einer gutbürgerlichen Fabrik und bin das 534 674. Exemplar. Na ja, geboren wurde ich eigentlich in einem Chemielabor, aber das ist lange her.

Ich erinnere mich allerdings noch gut daran, dass ich, nachdem ich die Form einer Tüte bekommen hatte und mit meinen Geschwistern auf eine Rolle aufgewickelt wurde, lange Zeit in einem engen, finsteren Karton warten musste, bis mein Leben wirklich begann.

Ausgepackt wurde ich dann in einem Supermarkt, wo ich an den Gemüsestand gelegt wurde. Schließlich wurde ich von einer Frau gepackt und zum Einpacken eines Päckchens Karotten verwendet. Als Verpackung einer Verpackung! Was für eine beleidigende Aufgabe! Aber vielleicht war das erst der Anfang einer tollen Karriere – wer weiß? Im Auto traf ich dann immerhin noch zwei meiner Geschwister und fühlte mich gleich weniger einsam.

Zuhause angekommen war ich dann wohl überflüssig, denn die Frau stopfte  mich einfach in einen großen Sack. Dort traf ich allerdings noch ganz viele andere Plastikteile von unterschiedlichem Aussehen, aber auch mir völlig Unbekanntes, so zum Beispiel silbern glitzernde Folie – die gefiel mir besonders gut.

Nach einer Weile wurden wir dann raus in die Kälte gestellt, wo wir bald unsanft in einen großen Wagen geschmissen wurden. Als nächste Station meiner Reise kam ein Trichter an die Reihe, dann ein sich bewegendes Band. Leider verlor ich hier meine Freunde der letzten Tage im Getümmel, als der Sack, in dem wir lagen, aufgerissen wurde. Dafür konnte ich jetzt die Förderbandfahrt direkt genießen. Hui macht das Spaß!

Ärgerlich war nur, dass immer neue Verfahren auf uns angewendet wurden, ein starker Wind zum Beispiel, der kleinere Kollegen wegpustete, mich aber nur ordentlich kitzelte. Die meisten Stationen, wie der Elektromagnet und das elektrische Feld habe ich eigentlich gar nicht gemerkt, aber einige der Mitreisenden haben sich da ganz komisch verhalten und sind nach oben weggeflogen.´Dann wurden wir mit Licht bestrahlt und alle, die dabei ähnlich wie ich reagierten, wurden in die gleiche Richtung weitergeleitet. Jetzt muss ich wohl zum unangenehmen Teil der Geschichte kommen:

Ich wurde geschreddert, gemahlen, und als ob das nicht schon genug wäre danach in heißes Wasser geschmissen! Oben schwamm dann ganz viel glibberiger Papierbrei. Für die jetzt folgende Karussellfahrt, mein absoluter, unumstrittener Lieblingsteil, hat sich aber die ganze Prozedur gelohnt. Das Wasser, in dem ich schwamm, drehte sich ganz schnell, um schwere von leichten Plastikteile trennen.

Wir schweren Teile wurden dann eingeschmolzen. Was für eine unausstehliche Hitze! Schließlich bekamen wir eine langweilige Stangenform verpasst und wurden kleingehackt, sodass nur noch Krümel übrigblieben. Ich muss zugeben, dass ich mich da schon ein bisschen in meine Kindheit mit meiner hübschen Tütenform zurücksehne. Ich hörte irgendwo jemanden sagen, dass meine jetzige  Plastikform minderwertig sei, irgendetwas von einem Qualitätsverlust, was ich sehr verletzend fand.

Als wir aber etwas später in die schönste Blumenkübelform aller Zeiten gegossen wurden, war ich doch wieder mehr als versöhnt.

Von M. Braun - 30. Juni 2016