In den Bayerischen Alpen aufgewachsen war ich in den letzten Jahren vor allem in Tirol und den daran angrenzenden Regionen unterwegs. Von der Landflucht in den italienischen Alpen hatte ich schon öfter gehört, mich jedoch nie näher damit beschäftigt. Dies änderte sich durch meine Teilnahme an dem von der CIPRA organisierten I-LivAlps-Workshop zum Thema „Soziale Innovation“. An der vom 13. bis 15. September 2017 im Valle Maira stattfindenden Veranstaltung nahmen junge Leute und CIPRA-Vertreter aus allen Alpenländern teil. Auch das whatsalp Team beteiligte sich im Rahmen von zwei Ruhetagen in San Martino, weshalb ich an dieser Stelle über meine Eindrücke vom Workshop berichten möchte.
Wer sich ins Valle Maira begibt, der spürt schnell die besondere Atmosphäre dieses Tals. Die steilen Berghänge sind felsdurchsetzt und überwiegend bewaldet. Zwischendrin schmiegen sich zahlreiche kleine Siedlungen an die Hänge, die oft nur aus weinigen Häusern bestehen. Nur im Talgrund finden sich auch ein paar größere Ortschaften. Der Baustil der Häuser ist sehr einheitlich und fügt sich sehr schön in die Landschaft ein. Beeindruckend sind vor allem die mit großen Steinplatten gedeckten Dächer. Neben einigen frisch renovierten Häusern finden sich viele verfallende Gebäude, regelrechte Ruinen ohne Fenster und häufig schon halb eingestürzt. In den Wäldern rund um die Siedlungen zeugen ausgedehnte Trockensteinmauern von der großflächigen Kulturlandschaft, die es hier einst gegeben haben muss.
Ein Tal mit Problemen? Unweigerlich habe ich mich beim Anblick der Häuser gefragt, wie es den Menschen ergangen sein muss, die hier vor Jahrzehnten ihre Heimatorte verlassen haben. Und wie sich wohl die gefühlt haben, die geblieben sind. Entvölkerung ist ein Phänomen, das mir aus meiner vertrauten Umgebung unbekannt ist. Sicher zieht es auch in anderen Alpenregionen die Menschen in die Ballungsräume, aber verfallende, verlassene Häuser sehe ich sonst nur selten. Ich glaube, dass es in unserer Natur liegt, dass ein solcher Anblick ein mulmiges Gefühl in uns auslöst. Vielleicht weil wir Ruinen mit Not und Krieg assoziieren oder weil sie uns an unsere eigene Vergänglichkeit erinnern.
Aber wie sehen heute die Lebensbedingungen im Valle Maira aus? Und was kann getan werden, um sie zu verbessern? Bei diesen Fragen kommt das Thema des I-LivAlps-Workshops ins Spiel: Soziale Innovation. Für Einsteiger in dieses Thema wie mich galt es zunächst die Bedeutung dieses Begriffs zu klären. Im Prinzip geht es darum, Lösungen für soziale Probleme zu finden. Diese Lösungen bedienen sich in der Regel sozialer Mittel und haben eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft. Soziale Innovation ist damit wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst und muss doch ständig aufs Neue entstehen.
Jedem von uns Workshop-Teilnehmern sind wohl gleich mehrere Beispiele für soziale Innovation aus unseren Heimatregionen eingefallen. Bei mir zu Hause sind beispielsweise unlängst Mitfahrerbänke aufgestellt worden, die es auch Menschen ohne Auto ermöglichen, bequem zu den Einkaufsläden am Ortseingang zu gelangen. Erfunden wurde diese Idee freilich nicht in meinem Heimatort, aber Kopieren ist bei der sozialen Innovation erwünscht. Warum das Rad auch immer wieder neu erfinden? Soziale Innovation kann praktisch aus jeder beliebigen Initiative heraus entstehen. Was es dafür braucht, ist die Überzeugung, etwas verändern zu können, Ideen, und Menschen, die an ihrer Umsetzung arbeiten. Und ganz wichtig – auch Scheitern gehört dazu.
Sehr bereichernd war für unseren Workshop, dass einige Einheimische der Einladung der CIPRA folgten und uns aus erster Hand über ihre Sicht auf das Valle Maira berichteten. Unmut wurde beispielsweise über die unzureichende politische Vertretung des Tales in der Provinzregierung geäußert. Außerdem gibt es im Valle Maira zwar sehr viel verlassenes Land, trotzdem ist es schwierig ein Haus zu finden. Viele junge Leute möchten sich im Tal ansiedeln und doch kehren viele, die dorthin ziehen, dem Tal nach kurzer Zeit wieder den Rücken. Vor allem im Winter wird es einsam, da dann die Gastronomiebetriebe schließen und viele Leute das Tal verlassen. Auch der zunehmende Anteil an Zweitwohnungen ist ein Problem für das soziale Leben, da viele Häuser für den Großteil des Jahres unbewohnt sind.
Es ist gar nicht so einfach sich als Außenstehender ein gutes Bild von einem Tal zu machen, das zwar im ständigen Austausch mit der Außenwelt steht, aber doch eine Welt für sich darstellt. Dennoch haben wir den Versuch unternommen, Lösungen für das Valle Maira zu entwickeln. Könnte etwa eine engere Kooperation der Landwirte untereinander und mit den Tourismusbetrieben helfen, die lokalen Agrarerzeugnisse besser zu vermarkten? Ist es denkbar, dass die Bewohner im Rahmen eines Zukunftsworkshops eine gemeinsame Vision für ihr Tal entwickeln? Und wie kann das Tal im Winter für Einheimische und Gäste attraktiver gestaltet werden? Viele dieser Fragen stellen sich auch anderswo, so dass jeder von uns Teilnehmern eine Vielzahl von Ideen und Anregungen vom Workshop mit nach Hause genommen hat.
Einig waren wir uns über die Schönheit des Tals. Bei nur 2 Einwohnern pro km² bleibt viel Raum für Natur. Insofern macht die vermeintlich strukturelle Schwäche des Tals dessen ganz besonderen Reiz aus. Betten-Burgen und Wellness-Oasen sucht man hier ebenso vergeblich wie Gewerbegebiete, und die Berge sind nicht zu „Erlebnisstätten“ umgestaltet, um auch diejenigen anzulocken, denen die Natur ansonsten zu langweilig ist. So hat sich im Valle Maira ein naturnaher Wandertourismus etabliert, der auf Wildromantik und gutes Essen setzt, wobei auf „Antipasti und alte Wege“, den Kult-Reiseführer für das Valle Maira, verwiesen sei.
Nördliche Ostalpen und südliche Westalpen bilden ja schon rein geographisch einen Gegensatz und auch entwicklungsgeschichtlich und kulturell liegen hier wohl Welten dazwischen. So sind es vor allem die Unterschiede zu meiner Heimatregion, die mich am Valle Maira so fasziniert haben. Was für mich Außenstehenden besonders reizvoll erscheint, mag für die Bewohner aber unter Umständen für Auskommen und Wohlbefinden nicht ausreichend sein. Insofern wäre eine behutsame Entwicklung für das Valle Maira wünschenswert, die der Einzigartigkeit des Tals Rechnung trägt. Die Menschen, die hier leben wollen, sollten hier leben und ihre Vorstellung vom Leben verwirklichen können. Soziale Innovation kann einen Beitrag leisten, dies zu ermöglichen.